1. Was bedeutet Scheinselbständigkeit?
Die Thematik der Scheinselbständigkeit betrifft viele Rechtsgebiete (z.B. Arbeitsrecht, Sozialrecht, Steuerrecht). Eine gebietsübergreifende Definition des Begriffs existiert allerdings nicht. Rechtsfragen müssen somit stets für jeden Bereich gesondert beantwortet werden.
Die Scheinselbständigkeit bewegt sich somit immer im Spannungsverhältnis zwischen selbständiger und unselbständiger (=abhängiger) Beschäftigung. Wie die beiden Begriffe voneinander abzugrenzen sind, kann im Einzelfall schwierig sein. Die Übergänge sind nicht selten fließend. Wichtig ist vor allem zu wissen, was sich jeweils hinter den beiden Bezeichnungen verbirgt:
Selbständige Beschäftigung
Eine selbständige Beschäftigung zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass die Tätigkeit frei gestaltet werden kann. Auch die Arbeitszeiten lassen sich eigenständig bestimmen. Ein Selbständiger kann seine Arbeitskraft nach eigenem Ermessen einsetzen und genießt weitreichende unternehmerische Freiheiten. Zum Beispiel kann er frei darüber entscheiden, zu welchen Konditionen er seine Leistungen anbietet oder ob er Mitarbeiter einstellt, die ihn bei seinen Aufträgen unterstützen. Im Gegenzug zu diesen Freiheiten trägt der Selbständige auch das unternehmerische Risiko.
Unselbständige Beschäftigung
Abhängig Beschäftigte bzw. Arbeitnehmer unterscheiden sich von Selbständigen vor allem durch den hohen Grad der persönlichen und wirtschaftlichen Abhängigkeit bei der Erledigung der jeweiligen Arbeitsleitungen. So ist der Beschäftigte zumeist weisungsgebunden und unterliegt einem Direktionsrecht. Auch ist er in eine feste Arbeitsorganisation integriert und muss seine Aufgaben im Rahmen bestimmter Vorgaben erledigen (z.B. hinsichtlich Inhalt, Zeit, Dauer oder Ort). Das unternehmerische Risiko verbleibt dabei bei seinem Arbeitgeber.
Auf die tatsächlichen Verhältnisse kommt es an
Ob eine Scheinselbständigkeit im genannten Sinne vorliegt, richtet sich vor allem danach, wie sich das tatsächliche Handeln der Beteiligten nach außen hin darstellt. Entscheidend sind also die tatsächlichen Verhältnisse, wobei rein formale Merkmale (z.B. Gewerbeanmeldung, Eintragung im Handelsregister, keine Personalakte usw.) meist keine Rolle spielen. Auch lassen sich die Risiken der Scheinselbständigkeit (z.B. Nachzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen) nicht vollständig auf den Auftragnehmer abwälzen. Entsprechende Absprachen sind in aller Regel unwirksam oder entfalten gegenüber Dritten bzw. Behörden keine Wirkung.
Scheinselbständigkeit vermeiden
Um dem Vorwurf der Scheinselbständigkeit zu begegnen, sollten Auftragnehmer daher am besten auch nach außen hin deutlich machen, dass sie unabhängig von ihrem Auftraggeber agieren.
Folgende Beispiele bieten eine Orientierung:
- Nutzung eigener Arbeitsräume
- Arbeit für mehrere Auftraggeber
- Verwendung eigenen Equipments
- Aufbau eigener Marketingstrukturen (z.B. Website, Social Media)
- Abschluss einer Berufshaftpflichtversicherung
Auch Auftraggeber können dazu einen Beitrag leisten, indem sie etwa keine festen Arbeitszeiten verlangen, die Auftragnehmer nicht zu regelmäßigen Berichten auffordern oder Auftragnehmer zu Fortbildungsveranstaltungen o.Ä. einladen.
2. Wie lässt sich rechtsverbindlich feststellen, ob eine Scheinselbständigkeit vorliegt?
Es bestehen unterschiedliche Möglichkeiten, um die Frage der Scheinselbständigkeit rechtsverbindlich klären zu lassen. Dabei muss vor allem zwischen den Bereichen des Sozial-, Arbeits- und Steuerrechts unterschieden werden:
- Im Sozialrecht hat der Gesetzgeber das sog. Statusfeststellungsverfahren eingerichtet. Zuständig dafür ist die Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung. Durch das Verfahren sollen sich die Beteiligten Rechtssicherheit darüber verschaffen können, ob bei der Ausübung einer konkreten Erwerbstätigkeit eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit vorliegt. Die entsprechende Statusanfrage kann jeder Beteiligte stellen. Eine vorherige Abstimmung ist nicht erforderlich. Der Antrag ist schriftlich zu stellen. Nach Abschluss des Verfahrens erteilt die Deutsche Rentenversicherung einen Bescheid.
- Im Arbeitsrecht kann die Feststellung eines Arbeitsverhältnisses durch eine entsprechende Klage vor einem Arbeitsgericht erfolgen.
- In steuerrechtlichen Angelegenheiten besteht die Möglichkeit, beim zuständigen Finanzamt (Betriebsstättenfinanzamt) auf Anfrage eine verbindliche Auskunft darüber einzuholen, ob und inwieweit im Einzelfall Lohnsteuervorschriften anzuwenden sind (sog. „Anrufungsauskunft“).
3. Folgen der Scheinselbständigkeit
Stellt sich heraus, dass ein Auftragnehmer nur scheinbar selbständig beschäftigt war, so kann dies für alle Beteiligten weitreichende Konsequenzen haben:
Folgen für den vermeintlichen Auftraggeber
Aus arbeitsrechtlicher Sicht sind im Falle der Scheinselbständigkeit die vertraglichen Beziehungen zwischen den Beteiligten von Anfang an in vollem Umfang wie ein Arbeitsverhältnis zu werten. Sämtliche Vorschriften zum Schutz von Arbeitnehmern finden daher Anwendung und können eingefordert werden (z.B. Recht auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Recht auf bezahlten Erholungsurlaub, Kündigungsschutz, Mutterschutz usw.).
Außerdem muss der Auftrag- bzw. Arbeitgeber die in der Vergangenheit angefallenen und nicht abgeführten Sozialversicherungsbeiträge an die Krankenkasse nachentrichten. Der Zeitraum der Nachentrichtungspflicht kann – entsprechend der Verjährungsfrist – bis vier und bei vorsätzlichem Vorenthalten der Beträge sogar bis zu 30 Jahre betragen! Je nach Dauer der Tätigkeit können dabei beträchtliche Summen entstehen.
Schließlich birgt die Scheinselbständigkeit auch steuerrechtliche Risiken. Arbeitgeber sind nach dem Gesetz dazu verpflichtet, die auf den Arbeitslohn entfallende Lohnsteuer an das Finanzamt abzuführen. Dieses kann daher vom Arbeitgeber ausstehende Beträge nachträglich einfordern. Handelt der vermeintliche Auftraggeber überdies vorsätzlich, macht er sich ggf. wegen Steuerhinterziehung strafbar.
Folgen für den vermeintlichen Auftragnehmer
Da selbständig Tätige meist eine höhere Bezahlung verlangen können als Angestellte, sind Arbeitgeber nicht selten darum bemüht, sich das zu viel Gezahlte zurückzuholen. Dass solche Forderungen nicht unberechtigt sind, hat das Bundesarbeitsgericht erst kürzlich entschieden und dem Kläger eine beträchtliche Summe (über 112.000,00 Euro zzgl. Zinsen) zugesprochen (vgl. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 26. Juni 2019 – Az. 5 AZR 178/18).
Außerdem kann das nachträgliche Bekanntwerden einer Scheinselbständigkeit unter Umständen dazu führen, dass der Auftragnehmer in seinen Rechnungen zu Unrecht die Umsatzsteuer ausgewiesen hat. Diese kann der Auftraggeber dann zurückfordern.
4. Kriterien einer Scheinselbständigkeit
Hier exemplarisch einige Anhaltspunkte, die für das Vorliegen von Scheinselbständigkeit sprechen können:
- Der Auftragnehmer verlangt ein vergleichsweise geringes Entgelt. Da ein Selbständiger viele Kosten selbst zu tragen hat (Kranken- und Pflegeversicherung, Buchhaltung, Reisekosten, Urlaub, Fortbildungen usw.), sollten sich diese Kosten in aller Regel auch im Lohn niederschlagen. Auch ein festes Gehalt, das den Arbeitsaufwand unberücksichtigt lässt, deutet auf einen Arbeitnehmerstatus hin.
- Die ausgeführten Leistungen finden überwiegend in den Räumlichkeiten des Auftraggebers statt, ohne dass dies zwingend notwendig ist.
- Der Auftragnehmer verfügt über einen kleinen Kreis an Auftraggebern und wird für diese über lange Zeiträume hinweg oder in sehr regelmäßigen Abständen wiederholt tätig.
- Der Auftragnehmer tritt durch Außenwerbung nicht am Markt in Erscheinung.
- Der Auftraggeber bindet seine Auftragnehmer eng in die Arbeitsplanung mit ein und der Auftragnehmer wiederum orientiert sich daran (z.B. Absprachen von Urlaubszeiten, Einführung von Berichtspflichten, Führen von „Dienstplänen“).
5. Fazit
- Um eine Scheinselbständigkeit zu vermeiden, müssen in erster Linie die Kriterien zur Abgrenzung von Selbständigkeit und abhängiger Beschäftigung beachtet werden.
- Die Abgrenzungskriterien sollten immer in ihrer Gesamtheit gesehen werden und bedürfen von Zeit zu Zeit einer Überprüfung.
- Die Einstufung einer Tätigkeit als Scheinselbständigkeit und die damit verbundenen Rechtsfolgen sind für jedes Rechtsgebiet gesondert festzustellen.
- Eine Scheinselbständigkeit kann mit erheblichen finanziellen Risiken für alle Beteiligten verbunden sein. Außerdem kann man sich strafbar machen.
- Da das Thema der Scheinselbständigkeit viele Rechtsgebiete betrifft, können komplexe Rechtsfragen auftreten. Notwendige Überprüfungen bei Behörden oder Gerichten sollten immer gut vorbereitet sein. Am besten gelingt dies durch eine vorherige rechtliche Beratung.